Ausflug


Am Sonntagmittag meldete sich Bettina übers Telefon. »Wie geht es Veit?« Ihre Stimme zitterte auffallend.

»Er vermisst dich und ehrlich gesa ...«

»Bitte, hör mir jetzt zu. Sie wollen mir Veit wegnehmen.« Bettina musste vernehmlich schlucken. »Ich fühle mich so schuldig.« Ein heftiges Schniefen klang durch die Leitung. »Seine Entstehung war schon ein Verbrechen und ich habe mich dazu auch noch bereit erklärt. Sie fordern, weitere Tests mit ihm durchzuführen. Verstehst du? Sie werden ihm weh tun.« Bettina konnte kaum sprechen. Liana lief es eiskalt den Rücken herunter, auch wenn sie nicht viel von dem verstand, was Bettina sagte, so war ihr doch klar, dass es hierbei um nichts Gutes ging.

»Veit ist etwas ganz Besonderes. Er ist einzigartig. Du musst ihn vor diesen Wahnsinnigen schützen. Das bin ich ihm schuldig. Er darf nicht für ihre Zwecke benutzt werden.«

»Wen meinst du mit ›sie?‹« Liana spürte ihre Gänsehaut weiter wachsen.

»Ich weiß, dass ich viel von dir verlange, aber du musst mit Veit die Stadt verlassen. Ich bitte dich, ihm zu liebe. Er kann sich doch nicht wehren.« Bettina schluckte, »vor allem darfst du unter keinen Umständen zur Polizei gehen, das würde die Angelegenheit nur noch verschlimmern, hörst du? Versprich es mir!«

Das ging jetzt zu weit. An dieser Stelle war aber nun wirklich Schluss. »Also Bettina ...«

»Sie werden ihn quälen. Sieh ihn dir an! Willst du das zulassen?« Bettinas Stimme versank in ihren Tränen. »Sie haben ihm einen Portkatheter gelegt. Darüber versorgst du ihm einmal die Woche mit 0,15 Liter Blut. Sein Blutpass befindet sich in seiner Reisetasche. Spätestens, wenn er schlapp und schläfrig wird, musst du handeln.«

»Das geht nicht. Weißt du, wie viel Verantwortung du mir aufbrummst?« Liana wurde klar, dass Veit sehr krank war, davon wusste sie bisher nichts.

»Ich flehe dich an. Du ...« Ein schrilles Kreischen erschütterte die Leitung, dass Liana das Telefon vom Ohr riss, aber nur für den Moment. Angespannt horchte sie ins Telefon, dabei hörte sie ein Poltern, vielleicht das Klappen einer Autotür? Danach lauschte sie dem Aufheulen eines Motors und letztlich das Quietschen von Reifen. In der Ferne vernahm sie Geräusche einer vorbeifahrenden Bahn, dann kehrte Ruhe ein. Liana ließ ihre Hände sinken, versuchte dieses Gespräch zu verarbeiten, vor allem zu verstehen.

Veits Entstehung sollte ein Verbrechen sein. War er das Produkt einer Vergewaltigung? Bettina hatte diesbezüglich keine Andeutungen gemacht, andererseits, welche Frau würde schon freiwillig über ihren sexuellen Missbrauch sprechen? Möglicherweise war Veit in einem Labor, absichtlich mit einer seltenen Krankheit, gezeugt worden und Bettina hatte sich bereit erklärt, dieses Kind auszutragen.

Nein!

Das war einfach zu schräg. Eins blieb jedoch sicher, sie musste Veit vor Dr. Klingberger schützen. Der einzige Weg Bettina zu helfen, war zur Polizei zu gehen. Nein! Die Polizei schaltete nur das Jugendamt ein und die übergaben Veit am Ende noch dem Vater, wenn Bettina nicht wieder auftauchte. Genau das versuchte vielleicht Dr. Klingberger zu erreichen. Veit sei etwas ganz Besonderes, hatte Bettina gesagt. Andererseits war nicht jedes Kind für seine Mutter etwas ganz besonderes? Liana ließ ihren Blick durch das Wohnzimmer schweifen, überlegte dabei, wo sie Veit verstecken könnte. Bei ihr war er nicht sicher. Darauf zu vertrauen, dass Guido immer zur rechten Stelle war, wäre naiv. Außerdem musste sie wieder arbeiten und Veit braucht rund um die Uhr eine Betreuung. Sie stutzte. Wo war Veit eigentlich? Wie konnte sie ihn nur aus den Augen lassen, wo ihre Wohnung alles andere als kindersicher war? In ihrer Panik sah sie ihn in der Küche an Reinigungsmittel probieren. Nein, hier war er zum Glück nicht. Das Schlafzimmer! Er steckte gerade seinen kleinen Fingerchen in die Steckdose. Nein. Nur die geschlossene Reisetasche stand vor dem Bett, der Inhalt lag verstreut überall herum.

»Veit?« Liana hielt den Atem an, um zu lauschen.

Plötzlich wackelte die Tasche und ein dunkles »Lia« erklang. Erleichterung breitete sich aus, aber wie hatte es Veit nur geschafft, von innen den Reißverschluss zu schließen? Schnell zog sie ihn auf.

»Veit! Tu so etwas nie wieder, hörst du?«

Er lachte nur, und es war so ehrlich dieses Lachen. Nein! Diesem süßen Fratz durfte niemand weh tun. Sie schwor sich, das zu verhindern. Nur wie? Die Umstände mit der Bluttransfusion erschwerten die Möglichkeiten. Als wären die Dinge nicht auch so schon schwierig genug. In der Seitentasche der Reisetasche fand Liana den Blutpass. In Großbuchstaben stand dort die häufigste Blutgruppe AB. Eine bessere Blutgruppe gab es nicht, nur das kleine Minus davor grenzte den Spenderkreis sehr ein. Veit konnte jede Blutkonserve erhalten, nur musste die Blutgruppe ein Negativzeichen aufweisen. Liana selbst hätte sich zur Verfügung stellen können, nur ihr Blut hatte ein positives Merkmal. Sie brauchte möglichst einen geeigneten Spender immer in der Nähe von Veit. Jedes Mal eine Klinik aufzusuchen, hinterließ auffällige Spuren, die Klingberger mit großer Wahrscheinlichkeit zu verfolgen wusste. Liana setzte Veit auf ihr Bett und begann seine Sachen einzusammeln.

»Wir müssen jemanden für dich finden.« Veit sah sie mit seinen braunen Augen an, als würde er genau verstehen, worum es ging. »Wohin könnte ich dich nur bringen?« Mit dieser Frage fiel ihr augenblicklich Hannah ein. Ihre erste Patientin, die sie selbstständig operieren durfte. Liana hatte, damals noch als Assistenzärztin, ihre Gehirnblutungen stoppen können. Durch eine Verletzung am Rückenmark blieb Hannah der Rollstuhl jedoch nicht erspart. Zu ihr hatte Liana einen besonders intensiven Kontakt aufgebaut. Hannah besaß ein unglaublich großes Herz für Kinder. Bestimmt war sie bereit, Veit Blut zu spenden. Liana schnappte sich ihr Adressbuch und die inzwischen gepackte Tasche.

»Komm, Veit, wir machen einen Ausflug.« Sie streckte ihm ihre Rechte entgegen, die er ohne zu zögern ergriff.

Bevor sich Liana mit Veit auf den Weg zu Hannah machte, borgte sie sich von der Tagesmutter einen Kindersitz. Für Veits Sicherheit war ihr der kleine Umweg in den Salbeiweg ohne Frage wert. Als sie von dort aus losfuhr, schaute sie alle paar Minuten in den Rückspiegel, ob man ihr folgen würde. Vielleicht übertrieb Bettina mit ihrer Panik und sie ließ sich davon noch anstecken. Unsinn! Veit war die Angst gegenüber Dr. Klingberger deutlich anzumerken. Möglicherweise ließ er sie sogar beschatten. Sie sollte wirklich aufpassen. Unterwegs fiel ihr nichts Ungewöhnliches auf und nach anderthalb Stunden lenkte Liana den Wagen auf den Hof der Familie Sperling. Der Bauernhof lag weit außerhalb der Stadt, abgelegen zwischen zwei kleinen Dörfern. Hier sah Liana Veit gut aufgehoben. Vor gut einem Jahr war Liana das letzte Mal hier gewesen. Herr Sperling hatte ihr stolz den ehemaligen Stall gezeigt, den er behindertengerecht für seine Tochter umgebaut hatte. Eine idyllische Wohnung mit genügend Platz, wo Hannah sich selbstständig mit ihrem Rollstuhl bewegen konnte. Mit einer herzlichen Umarmung wurde Liana von Familie Sperling empfangen. Frau Sperling deckte sofort den Tisch, während Veit den Rollstuhl von allen Seiten untersuchte. Überhaupt wirkte er diesen Leuten gegenüber auffallend aufgeschlossen. Er ließ sich von Hannah sogar auf den Schoß nehmen. Diese Tatsache warf Lianas anfängliche Überlegungen um. Veit in die Obhut dieser netten Familie zu geben, ermöglichte ihr die Suche nach Bettina.

»Hannah, ich brauche deine Hilfe.«

»Was kann ich für Sie tun?« Hannah mimte ein erwartungsvolles Gesicht.

»Meiner Arbeitskollegin, der Mutter von Veit, ist es zurzeit nicht möglich, sich um Veit zu kümmern, oder bei ihm zu sein. Ich habe mich gefragt, ob ...«

Hannahs Miene hellte sich auf, wie die strahlende Sonne, die hinter dunklen Wolken hervor scheint. »Er kann so lange bei uns bleiben. Das ist kein Problem. Wenn ich ins Büro fahre, kümmert sich Mama um den Kleinen.«

Frau Sperling nickte. »Das machen wir sehr gern für Sie, Dr. Majewski.«

»Das ist wirklich freundlich, aber ganz so einfach ist das mit Veit nicht.« Liana fühlte einen Kloß in ihrem Hals wachsen. »Veit hat Anämie. Er braucht regelmäßig Blutkonserven.«

Frau Sperlings Gesichtszüge wirkten jetzt angespannt. »Worauf lassen wir uns genau ein?«

Liana musste schlucken. »Veit hat die Blutgruppe AB negativ.«

»Ich habe aber B negativ«, warf Hannah dazwischen.

»Eben. Veit verträgt jede andere Blutgruppe, solange sie nur negativ ist. Wärest du auch unter diesen Umständen bereit, Veit in deine Obhut zu nehmen?« Liana hörte ihr Herz schneller schlagen.

»Aber Frau Dr. Majewski, natürlich, sehr gern sogar.« Hannah strich sich eine Strähne aus dem Gesicht. »Für dich mache ich das glatt.« Dabei lächelte sie Veit zu.

»Halt, Hannah! Was genau haben wir zu tun und wie bekommt der Junge seine Blutkonserve?« Frau Sperling riss ihre Augen weit auf.

»Ich werde Ihnen alles ganz ausführlich erklären. Sollte es irgendwelche Probleme geben, bin ich so schnell ich kommen kann wieder hier.« Diese Antwort schien die Mutter zu befriedigen. Sie nickte. Liana fühlte sich um Tonnen leichter. Veit hier in Sicherheit zu wissen, erleichterte die Suche nach Bettina. Zumindest diese Sorge war sie los.

»Ich hoffe, das kann ich eines Tages gutmachen.«

»Sie haben doch nichts gut zu machen. Ohne Sie wäre Hannah nicht mehr am Leben.« Frau Sperling lächelte. Wie gut diese Familie ihr tat, merkte Liana bei jedem Besuch aufs Neue. Sie wünschte sich mehr solcher Menschen in ihrem Umfeld.

»Danke, aber da ist noch was. Veit hat einen, wie soll ich sagen, recht eigenwilligen Vater. Keiner sollte Veit zu Gesicht bekommen.«

»Hier wird ihn ohnehin kein Schwein sehen.« Hannah lachte herzhaft.

Liana wusste, wie Hannah das meinte, doch sie musste ihr den Ernst der Lage verdeutlichen. »Es ist sehr wichtig, dass Sie Veit niemandem übergeben, außer mir. Verstehen Sie, was ich meine?«

»Nun machen Sie sich mal nicht so viel Gedanken. Veit ist bei uns bestens aufgehoben. Wenn irgendetwas sein sollte, rufen wir Sie an.« Frau Sperling zeigte ihr warmherziges Lächeln, das alle Sorgen vergessen ließ.

»Danke. Ich bin froh, Veit in Ihren Händen zu wissen. Er ist mir inzwischen selbst ans Herz gewachsen.« Mit dieser Aussage wurde Liana erst bewusst, wie wahr ihre Worte waren. Sie ließ sich nicht nur deshalb gern überreden, die Nacht auf dem Bauernhof zu verbringen. Für Veit wäre die gemeinsame Zeit gewiss noch hilfreich, sich an Hannah zu gewöhnen. Zwischendurch versuchte Liana, Veits Mutter über das Handy zu erreichen. Doch jedes Mal erhielt sie nur die Ansage, der gewünschte Gesprächsteilnehmer sei nicht erreichbar. Die wagen Zweifel, ob Bettina die Situation falsch einschätze, schwanden zusehends. Und wenn der Telefonanruf heute ihr letztes Lebenszeichen war?

Nein! So schwarz wollte Liana die Lage nicht ausmalen.

Liana übernachtete mit Veit bei Hannah in der großzügigen Wohnung. Trotz der Gedanken um Bettinas Verschwinden und um die Hintergründe der ganzen Angelegenheit schlief Liana fest, ohne Alpträume, wie schon lange nicht mehr. Die herrliche Landluft und die himmlische Ruhe schienen Liana wie ein Kurzurlaub. Gleich am nächsten Morgen versuchte sie, Bettina wieder auf dem Handy anzurufen.

Vergeblich!

Zum Frühstück gab es knusprige Brötchen, eine große Portion Rührei mit Speck, frische Wurst und leckeren Käse. Es fehlte wirklich an Nichts und der Kaffee von Frau Sperling war der beste, den Liana je getrunken hatte. Danach begann sie Hannah und Frau Sperling über die ersten Anzeichen von Veits Anämie aufzuklären. Seine Haut würde blass, er selbst schläfrig und lustlos werden. Liana hatte für zwei Bluttransfusionen immer eine Einmalausrüstung mit Schläuchen und Kanülen in ihrem Arztkoffer. Sie versprach, mit der Post neue sterile Fusionsbestecke zu schicken. Für den Port von Veit musste Liana spezielle Kanülen nehmen, die sie aus der Klinik besorgen konnte. Liana erteilte Hannah einen Schnellkurs im Blutabnehmen. Bei Hannah lagen die Venen dicht und damit sichtbar unter der Haut, was für den Ungeübten einen großen Vorteil brachte. Zudem war sie sehr geschickt, nicht jeder kann sich selbst eine Kanüle in die Vene stechen.

»Großartig, Hannah! Du bist richtig begabt.« Worüber sollte sie sich noch sorgen? Veit war hier wirklich in den allerbesten Händen. Das Wichtigste jedoch war die Hygiene des Portkatheters. Hierfür ließ Liana genügend Desinfektionsmittel sowie Tupfer da und erklärte Hannah, wie sie den Port am rechten Rippenbogen von Veit säubern und wo sie die Kanüle einführen musste.

»Tut ihm das nicht weh, dieses Kunststoffding unter der Haut?« Hannah zog ihre Stirn in Falten. Es schien als würde sie sehr mit ihm mitfühlen.

»Nein, Hannah. Jede Woche seine dünnen Venen anzustechen, wäre viel leidvoller. Schmerzen bekommt er nur dann, wenn sich dort eine Infektion ausbreiten kann. Deshalb ist es ganz wichtig darauf zu achten, dass alles keimfrei bleibt, so wie damals bei deinem externen Fixakteur.« Das war ein guter Vergleich, mit dem Hannah aus eigener Erfahrung etwas anfangen konnte. Wie auf Bestellung, zeigten sich am Nachmittag ersten Anzeichen der Blutarmut bei Veit. Er saß verträumt vor den Kochtöpfen, die Frau Sperling ihm zu Spielen gegeben hatte, in der Hand den Schneebesen mit dem er noch vor kurzem so herrlich Krach gemacht hatte. Sein Gesicht war auffallend blass. Für Liana ein beruhigendes Gefühl, Veit und Hannah bei der ersten Bluttransfusion zur Seite stehen zu können und die Aufsicht zu führen. Jetzt, im Ernstfall, spielte bei Hannah die Aufregung mit. Sie benötigte drei Versuche, bis sie ihre Vene traf. Veit schien die Prozedur vertraut, er hielt erstaunlich still, aber vielleicht war er schon zu schwach. Liana sah nun keine Schwierigkeiten mehr, die Familie mit Veit allein zu lassen. Sie konnte bedenkenlos zurückfahren. Veit war in den allerbesten Händen, die sie sich für ihn vorstellen konnte. Nach dem Abendbrot verabschiedete sich Liana von Familie Sperling. Veit schlief bereits auf seiner Matratze in Hannahs Schlafzimmer, als Liana ihm zum Abschied über den Kopf strich. Jetzt musste sie sich dem Problem mit Bettina stellen, die weiterhin unerreichbar blieb.


Obwohl der Weg über die Autobahn wesentlich schneller gewesen wäre, wählte Liana die Landstraße. Im Dunkeln erkannte sie kaum noch etwas von den Ortschaften und doch genoss sie die Eintracht der Dörfer, Felder und Wälder. Sie fühlte sich trotz aller Aufregung ausgeruht, freute sich sogar auf den Dienstbeginn morgen Mittag. Sie fuhr an einem alleinstehenden Haus an einem Waldrand vorbei. Dann folgte einige Kilometer nur dichter Wald. Die Baumkronen wuchsen über der Straße zusammen, sodass es im Licht der Scheinwerfer wie ein Tunnel aussah. Die Stadtgrenze konnte nicht mehr allzu weit sein. Ein Stück voraus glaubte Liana am Straßenrand ein Reh, jedenfalls ein Tier zu erkennen. Sofort nahm sie den Fuß vom Gas und schaltete dann das Fernlicht runter. Sie schaute kurz in den Rückspiegel, um sich zu vergewissern, dass kein anderes Auto angerast kam. Zur Sicherheit drosselte sie die Geschwindigkeit. Zunächst erfasste sie nur wage Bewegungen in der Dunkelheit, die sie nicht zuordnen konnte. Nur eine dunkle Silhouette verharrte am Straßenrand. Hoffentlich sprang das Vieh nicht plötzlich vor ihr Auto. Besser, sie wartete, bis es verschwand, schließlich hatte sie Zeit. Liana bremste ungefähr zwanzig Meter vor dem Schatten ab und hielt ihn weiter im Blickfeld.

Für den Moment stockte ihr der Atem. Das war kein Tier! Eine Gestalt, ein Mensch. Ob das ein Trick war, um sie aus dem Wagen zu locken, um sie auszurauben? In Gedanken sah sie sich schon als vermisste Person in der Fernsehsendung ‚Akte XY ungelöst‘. Man fand das Auto der Vierundzwanzigjährigen ohne Spuren auf Gewalt.

Liana verspürte leichte Übelkeit in der Magengegend. Weit und breit keine andere Menschenseele, sie wäre leichtsinnig, würde sie hier aussteigen. Es passierten heutzutage so viele Verbrechen, andererseits war sie Ärztin, verpflichtet Menschenleben zu retten. Was, wenn dieser jemand dort vorn selbst Opfer einer Gewalttat geworden war und Hilfe benötigte?

Sie wog ab, was sie tun sollte, schließlich siegte die Ärztin in ihr. Sie zog die Handbremse an, um auszusteigen. Im Licht der Scheinwerfer ging sie noch etwas zögerlich auf die Person zu. Mit jedem Schritt erkannte sie Einzelheiten. Von der Körperstatur her, die breiten Schultern, Bartwuchs musste es sich um einen Mann handeln. Er verharrte in gekrümmter Haltung am Straßenrand. Ein hörbares Stöhnen brachte ihren Herzschlag auf Hochtouren. Wenn das hier ein Überfall werden sollte, dann waren die Methoden aber ziemlich gemein.

Nein! Es sah so gar nicht danach aus, eher, als habe der Mann eine schlimme Verletzung. Vermutlich kam sie genau zur rechten Zeit, um zu helfen. Ihre Schritte wurden fester, schneller und zunehmend erfasste sie Einzelheiten. Der Mann presste die Hände auf die Schläfen. Er hatte offensichtlich furchtbare Schmerzen.

»Sind Sie verletzt? Was ist passiert?« Liana empfand die Situation als äußerst unheimlich, doch Angst verspürte sie jetzt nicht mehr.

»Sind Sie allein?« So weit das in der Dunkelheit im Scheinwerferlicht möglich war, schaute sich Liana kurz um, wandte sich dem Mann wieder zu. Auf dem Handrücken traten die Adern hervor. Es waren kräftige Hände mit einer glatten, straffen Haut.

»Kommen Sie.« Liana schob ihn zum Auto. »Ich werde Sie ins Krankenhaus bringen.« Sein Stöhnen klang lauter, veränderte sich zu einem Ächzen. Er konnte kaum laufen, es glich eher einem Torkeln. Liana öffnete die Beifahrertür und drängte den Mann auf den Beifahrersitz.

»Können Sie mich verstehen?« Seine Schmerzen mussten so überwältigend sein, dass er auf keine ihrer Fragen reagierte. Liana tastete nach seinem Puls. Er wurde auffallend langsamer. Plötzlich sackte der Mann in sich zusammen. Er hatte das Bewusstsein verloren. Zum Glück saß er jetzt im Wagen. Liana griff nach ihrem Arztkoffer auf der Rücksitzbank, um das Stethoskop hervorzuholen. Wie sie bereits vermutete, war sein Herzschlag enorm verlangsamt, seine Atmung dagegen viel zu schnell. Irgendwo musste es doch eine Ursache geben. Sie strich sein wirres Haar aus dem Gesicht, dann atmete sie überrascht ein.

Ein Adonisgesicht!

Er hatte lange dunkle Wimpern und Augenbrauen, die wie ein gemalter Bogen am Nasenrücken aufeinandertrafen. Seine leicht hervorstehenden Wangenknochen und seine kleine kurze Nase sahen männlich, aber nicht kantig aus. Die schwungvollen Lippen wurden von einem kurzen Bart gerahmt, der etwas Jugendliches ausstrahlte. Er konnte kaum älter als sie selbst sein. Liana mahnte sich, ihn nicht nur anzustarren. In einer derartigen Situation, sich so gehenzulassen, kannte sie sonst nicht von sich. Sie suchte ihn nach möglichen Wunden oder stumpfen Verletzungen ab, fand aber keine. Ein solch heftiger Kopfschmerz mit Bewusstlosigkeit ließ auf eine Hirnblutung, einen Hirnschlag schließen. Sie musste ihn sofort ins Krankenhaus fahren. Einen Krankenwagen zu rufen, würde nur kostbare Zeit fordern. Sie wäre mit ihrem Auto vermutlich schneller in einer Klinik, als der Rettungswagen hier draußen. Liana schnallte ihren regungslosen Beifahrer an, schloss die Autotür und setzte sich hinters Lenkrad. Noch während sie losfuhr, kam er überraschenderweise wieder zu sich, wobei er jetzt nicht den Eindruck erweckte, als hätte er Schmerzen.

»Haben Sie solche Anfälle öfter?« Liana warf einen kurzen Blick auf ihn. Er richtete sich auf, schaute sich hektisch um. Seine Finger zappelten auf seinem Schenkel.

»Lassen Sie mich aussteigen.« Seine Stimme klang rau, als wäre er heiser.

»Sie müssen sich untersuchen lassen. Die Symptome deuten auf eine sehr ernst zunehmende Erkrankung hin.«

»Lassen Sie mich bitte aussteigen.« Diesmal trug er seine Worte lauter vor allem fester vor.

»Hier draußen, mitten im Wald?« Liana sah kurz in sein Gesicht. Seine Augen waren extrem rot. In seinem Blick lag etwas Lauerndes, etwas Wildes. Einerseits erschrocken war sie anderseits von diesem Blick auch fasziniert. Sie schaute wieder auf die Straße.

»Sie müssen sich einem Arzt anvertrauen. Ist Ihnen klar, dass Sie eben bewusstlos waren? Ich würde Sie gerne untersuchen.«

Unerwartet riss der Mann die Autotür auf. Nur der Sicherheitsgurt hielt ihn noch zurück. Liana bremste. »Warten Sie! Ich halte ja an.«

Völlig panisch löste er den Gurt und flüchtete aus dem Wagen, als sei der Teufel hinter ihm her.

»So warten Sie doch!« Liana zog eilig eine Visitenkarte hervor. »Bitte.« Sie eilte um das Auto herum, ihm nach. Liana stockte der Atem. Er schien sich in Luft aufgelöst zu haben, war einfach verschwunden. Sie drehte sich mehrmals um. Das ging nicht mit rechten Dingen zu. Zweifelnd starrte sie in die Dunkelheit des Waldes. War sie denn von allen guten Geistern verlassen, einem fremden Mann hinterher zu rennen? Und wenn er noch so attraktiv aussah, ihm nachzulaufen, führte doch jetzt zu weit.

Plötzlich flatterte eine Fledermaus dicht über ihren Kopf. Liana zuckte zusammen und eilte zum Wagen. Schwer atmend ließ sie sich hinter dem Lenkrad nieder und versuchte ihre Gedanken zu ordnen. Ein grelles Licht blendete sie durch den Rückspiegel. Ein Auto näherte sich von hinten. Schnell betätigte sie den Knopf des Warnblinkers, dann lehnte sie sich zurück. Unmöglich konnte sie sofort weiter fahren. Ihre Knie zitterten, obwohl nichts geschehen war.

Was für ein verrücktes Erlebnis. Eine Hirnblutung ließ sich nach dem unerwarteten Erwachen ausschließen, aber mit welcher Krankheit rannte dieser verdammt gutaussehende Mann herum? Warum benahm er sich so sonderlich? Zumindest hätte er sich auf ein Gespräch einlassen, wenigstens aber so was wie ›Danke‹ sagen können. Plötzlich kam ihr Bettina wieder in den Sinn. Liana glaubte schon nicht mehr daran, sie zu erreichen, trotzdem versuchte sie das Handy anzurufen, dann zu Hause, dort nahm natürlich auch niemand ab. Liana grübelte nach einer Erklärung, was an einem anämischen Kind wie Veit so außergewöhnlich sein konnte, dass man die Mutter entführte, oder ging es hier lediglich um Machtspielchen, die Dr. Klingberger nur allzu gern demonstrierte? Liana rieb sich das Gesicht, während sie die letzte Möglichkeit ausschloss. Bettina hatte am Telefon Tests erwähnt, die »sie« mit Veit durchführen wollten. Bestimmt ging es um seine Anämie. Aber wer, wenn nicht Ärzte, würden an der Bekämpfung von einer Blutkrankheit interessiert sein? Verdammt! Sie hatte einfach keine Idee, was sich genau hinter Bettinas Worten verbarg. »Du musst ihn vor diesen Wahnsinnigen schützen. Das bin ich ihm schuldig. Er darf nicht für ihre Zwecke benutzt werden.« Wer steckte dahinter und was würden sie mit Bettina anstellen?

Ihr Magen rebellierte, als Liana an eine Gefangenschaft aus einem Spionagefilm mit Folter dachte. Es gehörte zu ihrer Pflicht, zur Polizei zu gehen. Nur von Veit sollte sie besser nichts erzählen. Nein! Damit machte sie sich strafbar, verstrickte sich am Ende in irgendwelche Lügen, wäre dann selbst nicht mehr glaubhaft. Außerdem hatte Bettina sie ausdrücklich darum gebeten, nicht die Polizei aufzusuchen. Sie atmete ganz tief. Sie konnte grübeln so viel sie wollte, eine Lösung für dieses Problem schien es nicht zu geben.


Liana saß übermüdet am Frühstückstisch. Den größten Teil der Nacht hatte sie mit Nachdenken verbracht. Dieser seltsame junge Mann ging ihr nicht aus dem Kopf. Allein sein attraktives Gesicht hatte sich so sehr in ihr Gedächtnis eingebrannt, dass sie ihn ständig vor sich sah. Sie wollte auf andere Gedanken kommen und nahm die Tageszeitung in die Hand. ›Neues Opfer der Vampirfledermaus‹

Im Geiste sah sie plötzlich Bettina vor sich, wie sie am Samstag unerwartet hier aufgekreuzt war, dann Veit, wie schlapp und blass er bei Hannah die Infusion erhalten hatte und schließlich wieder den attraktiven Mann aus dem Wald.

Was für ein Chaos! Veit war gut versorgt, Bettina hatte jetzt Vorrang. Liana überlegte, eine enge Freundin oder einen Familienangehörigen von Bettina ausfindig zu machen. Vielleicht könnte sie auf diese Weise mehr über die Hintergründe erfahren. In der Personalabteilung der Klinik sollte sie heute gleich nachfragen. Am besten fuhr sie eine halbe Stunde eher zum Dienst.


Wie gewohnt zog sich Liana um und lief die Station entlang, an der Stationsschwester vorbei.

»Guten Morgen, Schwester Marlies.« Zuerst musste sie sich um Bettinas Angelegenheit kümmern.

»Guten Morgen, Frau Dr. Majewski. Der Chefarzt erwartet Sie in seinem Büro.«

Ein Gespräch mit dem vielbeschäftigten Chefarzt noch vor Dienstantritt ließ auf ein wichtiges Anliegen schließen. Schwester Marlies eilte davon. Liana schritt den Gang hinunter, klopfte bei Prof. Dr. Silvanus an die Tür und wurde augenblicklich hereingebeten.

»Bitte nehmen Sie Platz, Frau Dr. Majewski.«

Liana beschlich eine merkwürdige Ahnung, welche Art von Unterhaltung Prof. Dr. Silvanus zu führen gedachte.

Er nahm einen tiefen Atemzug. »Sie wissen, wie sehr ich Sie als Chirurgin schätze. Ebenso sind einige Kollegen der Meinung, dass Sie wirklich viel Talent besitzen. Sie könnten es weit bringen, wenn Sie nur wollten.« Er lehnte sich in seinem Sessel zurück, musterte sie eingehend. »Allerdings ist mir da ein Vorfall zu Ohren gekommen, der für unser Krankenhaus nicht tragbar ist.«

»Ein Vorfall? Was meinen Sie bitte?« Sie hatte sich nichts zuschulden kommen lassen. Wovon redete der Kerl?

»Laut dem Befund, den Sie erstellt haben, ist bei Frau Zottka eine Meningitis diagnostiziert worden, die sie nicht mit einem Antibiotikum behandeln wollten.«

»Das ist ja kompletter Unsinn. Frau Zottka ...«

Silvanus fuhr ihr ins Wort. »Ich habe die Akte von Dr. Klingberger erhalten. Er kann weder Ihre Diagnose noch ihre Therapieanordnung nachvollziehen. Eine derartige dilettantische Fehldiagnose ist untragbar.« Silvanus wirkte ungehalten. »Dr. Klingberger erwartet eine Stellungnahme von Ihnen.«

Klingberger, natürlich! So sah also seine Rache aus. Dieser Mistkerl besaß tatsächlich die Macht, ihre Karriere zu beenden. Nein, das hatte sie nicht geglaubt.

»Wo finde ich Dr. Klingberger, bitte?« Liana gab sich viel Mühe Erhabenheit zu zeigen. Klingberger sollte sich auf was gefasst machen.

»Er hat sich heute wegen eines privaten Problems Urlaub nehmen müssen. Vielleicht ist es besser, ich stelle Sie für diese Woche frei. Sie können sich in aller Ruhe überlegen, wie Sie diese Angelegenheit zu retten gedenken.«

»Sie stellen mich frei?« Liana schluckte. Das war der erste Schritt zur Kündigung. Sie sah sich nächste Woche schon auf der Straße sitzen. Andererseits konnte sie die freien Tage gut brauchen, um herauszufinden, was mit Bettina los war.

»Ja, das wird wohl notwendig sein.« Sie verließ das Büro. Sie spürte die Röte ihrer Wut im Gesicht. Nachdem sie sich wieder umgezogen hat, traf Liana auf Schwester Gunda, die häufig mit Bettina zusammenarbeitete. Das war die Gelegenheit, um sich zu erkundigen. Liana erfuhr aber nichts Wichtiges. Bettina war seit Sonntag nicht mehr zum Dienst erschienen. Es gab keine Telefonnummern von Angehörigen. Niemanden, den man in einem Notfall benachrichtigen konnte. Unter diesen Umständen schrumpften ihre Möglichkeiten rapide, um nach Bettina zu suchen. Nachdenklich verließ sie das Krankenhaus. Innerhalb von nur wenigen Tagen brach ihr wohlgeordnetes Leben wie ein Kartenhaus zusammen. Klingberger, dieser Widerling, hatte nicht gezögert, seine Drohung wahr werden zu lassen. Wie kleinlaut sie gegenüber dem Chefarzt diese Unterstellung hinnehmen musste, die mehr als offensichtlich von Klingberger eingefädelt worden war. Die Patientin hatte gar keine Meningitis und Liana hatte diese Diagnose überhaupt nicht gestellt. Aber sie hatte nicht mal die Chance bekommen, sich zu rechtfertigen. Ja, wie schnell ihre Karriere von fremder Hand beendet war. Einen solch schädigenden Ruf wieder herzustellen, schien ihr unmöglich. Liana bemerkte, wie wütend sie über die ganze Sache wurde. Klingberger war ein hinterhältiger Scheißkerl. Wie konnte ein so derart unsympathischer Mann der Vater eines so aufgeweckten Kindes sein?

Veit!

Sie vermisste ihn, sein Lachen. Beinahe hätte sie in der Aufregung vergessen, die Bluttransfusionsbestecke zu besorgen. Damit zumindest sein Leben, seine Gesundheit gesichert war, musste sie noch mal zurück. Im Keller kam sie gewiss unauffälliger an diese Gegenstände heran, als oben auf der Station, wo jeder sie kannte. Im Fahrstuhl lauschte sie ihrem heftigen Herzklopfen, dabei zog sie sich den Arztkittel über, um sich im Notfall, als Ärztin ausweisen zu können. Aufgeregt war sie, wie nie in ihrem Leben. Als die Fahrstuhltür sie in die Kelleretage entließ, kam sie sich wie ein Dieb vor. Sie war ein Dieb, aber eher ein Robin Hood, der Gutes im Schilde führte. Irgendwo weit hinten hörte sie, wie man Kartons stapelte. Zunächst brauchte sie eine Orientierung, wo sie die speziellen Portkanülen finden könnte. Ihre Nerven vibrierten. Viermal ging der Fahrstuhl auf, ohne, dass jemand herauskam. Ein Mal versteckte sie sich hinter einem Stapel Kisten, als der Hausmeister an ihr vorbei lief. Bei jedem Geräusch zuckte sie zusammen. Für eine solche Situation war sie nicht geschaffen. Am Ende würde sie noch einen Herzkollaps erleiden. Nein, das war nicht ihre Welt. Eine geschlagene Stunde verbrachte sie in den Lagerräumen, bis sie endlich gefunden hatte, wonach sie suchte. Wann sie das nächste Mal an diese Materialien herankommen konnte, stand in den Sternen, die ihr im Moment nicht wohlwollend schienen. Sie griff deshalb lieber gleich nach einem ganzen Karton. Erst als sie draußen in ihrem Wagen mit dem Diebesgut saß, atmete sie wieder ruhiger, auch ihr Herzschlag normalisierte sich.

Sie dachte an das Gespräch mit Prof. Dr. Silvanus. Klingberger war als langjährigem Arzt natürlich mehr Vertrauen und Glauben zu schenken, als einer jungen aufstrebenden Ärztin. Erneut wanderten ihre Gedanken zu Veit. Sie sah seine kleine Stupsnase vor sich, seine bernsteinfarbenen Augen. Und wenn Klingberger selbst jene Tests durchführen wollte. Es wäre jedenfalls eine gute Erklärung für Veits auffälliges Verhalten, als er Klingberger an ihrer Wohnungstür begegnet war. Eine Gänsehaut überzog ihren Körper. In ihrer Fantasie sah sie Veit auf einer Untersuchungsliege, verkabelt, mit einem Schlauch am Kopf.

Unsinn! Klingberger war Arzt, trotz des Feldzuges gegen sie, hatte er den Eid abgelegt, Menschen zu helfen, nicht sie zu quälen. Aber was genau steckte hinter dieser ganzen Geschichte? Je länger Liana darüber nachdachte, was sich die letzten Tage ereignet hatte, desto verworrener schien ihr die Angelegenheit zu sein. Bettina verheimlichte viel mehr, als sie bisher angenommen hatte. Ging es hier wirklich nur um Veit, um seine Krankheit oder spielten noch andere Faktoren eine Rolle? Diese Bekanntschaft, von der Bettina sprach, zu diesem verunglückten Hausmeister, da steckte definitiv eine weitere Geschichte hinter. Das neue Opfer aus der Zeitung von heute Morgen hatte gewiss nichts mehr damit zu tun. Liana erinnerte sich an Bettinas Aussage, Veits Entstehung sei ein Verbrechen gewesen. Es war doch eine Vergewaltigung. Klingberger traute sie eine solche Tat durchaus zu, doch diese Überlegung änderte die Tatsachen nicht. Bettina blieb verschwunden und Klingberger hielt sie vermutlich irgendwo fest. Einen Grund mehr zur Polizei zu gehen. In diesem Fall nahm sich das Jugendamt Veit an. Nein! Veit sollte bei Hannah bleiben. Was Liana jetzt brauchte, war eine gute Tasse Kaffee. Ja! Menschen um sie herum, die für Ablenkung sorgten. Sie fuhr ins Parkhaus des großen Einkaufszentrums Gesundbrunnen, um sich ins Getümmel zu stürzten.

In einem Schaufenster für Herrenbekleidung blieben ihre Augen auf einem Poster kleben. Das ansprechende Gesicht auf der Reklame erinnerte sie an den Mann von gestern im Wald. Augenblicklich sah sie ihn vor sich. Seine männlichen Züge, diese breiten Augenbrauen und seine megalangen Wimpern. Herrje! Was war nur los mit ihr? Der Typ wollte nichts von ihr, war sogar vor ihr geflüchtet. Sie musste ihn vergessen.

Ihre Gedanken machten einen Sprung zu Veit.

Jetzt, da sie freihatte, könnte sie mit ihm zusammen sein. Andererseits barg das natürlich auch die Gefahr, verfolgt zu werden. Klingberger hatte mit seiner Freistellung vielleicht genau das bezwecken wollen, denn bestimmt kam der Vorschlag nicht vom Chefarzt. Es wäre auch denkbar, dass Klingberger sie beschatten ließ. In einem Café setzte sich Liana an einen Tisch, bestellte sich einen Cappuccino und beobachtete dabei die hektischen Menschen beim Einkaufen. Was für ein Gewühle und Geschubse. Zwischen den Cafébesuchern fiel ihr eine zierliche Frau auf. Sie starrte zu Liana herüber. Ihre langen schwarzen Haare sahen gepflegt und glänzend aus. Ihre braunen Augen besaßen eine magische Anziehungskraft. Sie musste eine Südländerin sein. Ihre Lippen bewegten sich, als spräche sie Liana an, doch um es zu verstehen, saß sie zu weit entfernt. Stattdessen meinte Liana, eine innere Stimme zu hören.

»Ich brauche deine Hilfe. Suche ihn. Nur du kannst ihm helfen.«

»Wem?« Liana zuckte zusammen. Jetzt redete sie schon in der Öffentlichkeit mit sich selbst. Wie peinlich war das denn? Hoffentlich hatte sie niemand beobachtet. Verlegen griff sie nach ihrer Tasse, nahm einen Schluck und schaute wieder auf. Die Frau saß nicht mehr da. Suchend blickte Liana in die Menschenmenge. Weit konnte sie noch nicht sein, sie musste doch hier noch zu sehen sein. Liana begann, an ihrem Verstand zu zweifeln. Erst hörte sie Stimmen, dann sah sie Leute, die gar nicht da waren. ›Suche ihn‹, schoss es ihr durch den Kopf. Das war alles nur Einbildung. Die Ereignisse der letzten Tage hinterließen ihre Wirkung. Sie bezahlte ihren Cappuccino und begab sich auf den Weg zu ihrem Auto. Auf der Parkebene entdeckte sie die Frau erneut. Sie ging auf einen dunklen Kombi zu. Plötzlich stand Dr. Klingberger vor Liana, versperrte ihr damit die Sicht auf die Frau. Der Kerl wurde langsam zur Plage.

»Welch ein Zufall, Ihnen hier zu begegnen, Frau Dr. Majewski.« Sein widerliches Grinsen ärgerte sie. »Wenn Sie nächste Woche wieder Ihre Arbeit antreten möchten, verraten Sie mir doch bitte, wo Sie meinen Sohn versteckt haben und ...«

Dieser miese Scheißkerl! »Veit ist genauso wenig ihr Sohn, wie er meiner ist«, hörte sie sich sagen. Wie kam sie dazu, eine solche Aussage zu treffen? Klingberger klappte der Unterkiefer nach unten, was sich für Liana nach einem Volltreffer anfühlte. Es gab keine Notwendigkeit, sich mit diesem unverschämten Kerl noch weiter abzugeben. Ihre Blicke richteten sich auf die leere Parklücke. Der Kombi war inzwischen hinausgefahren. Eilig stieg Liana in ihren Wagen. Als sie losfuhr, klopfte Klingberger an ihre Scheibe.

»Das werden Sie bereuen!«, schrie er ihr hinterher.

»Und wenn schon. Veit ist also nicht dein Sohn, verehrter Klingberger«, sagte sie zu sich selbst. Warum behauptete das Bettina dann? Welchen Grund gab es für sie, sich mit Klingberger abzugeben, wenn er gar nicht der Vater war? Bettina hatte sich so merkwürdig ausgedrückt, sie habe sich bereit erklärt. Eine künstliche Befruchtung, das wird es gewesen sein. Klingberger wollte ein anämisches Kind zeugen, mit dem man Tests durchführen konnte. Anfangs war Bettina vielleicht einverstanden und nun brachte sie es nicht mehr übers Herz, Veit aus den Händen zu geben. Auch wenn es die einzig vernünftige Erklärung war, so schien Liana diese Möglichkeit doch etwas sehr abwegig. In den kommenden Stunden, die sie vor Bettinas Wohnungstür verbrachte, kehrte sie nur immer wieder zu dieser Überlegung zurück. In der Wohnung von Bettina blieb es mucksmäuschenstill. Was hatte sie auch erwartet? Nach vereinzelten Gesprächen mit vorbeikommenden Hausbewohnern erfuhr Liana, dass Bettina sich nur selten in ihrer Wohnung aufhielt und der Briefkasten meist überquoll. An diesem Tag kam Liana nicht wie sonst übermüdet nach Hause. Sie fühlte sich eher aufgedreht. Bettinas Verschwinden, Klingberger und das Geheimnis um Veit geisterten ihr durch den Kopf. Wie sie an die gestrige Heimfahrt dachte, fiel ihr unweigerlich der junge Mann von letzter Nacht ein. Womöglich gab es dort, wo sie ihn getroffen hatte, ein Haus in der Nähe, ein Forsthaus vielleicht. Sie musste ihn einfach wiedersehen, auch wenn er sich sehr eigenartig benommen hatte. In einer solchen Situation war er wahrscheinlich geschockt, weil er nicht wusste, wie er in ihren Wagen gekommen war. So ein Blackout allein konnte einem Menschen ja schon Angst einjagen. Was hatte sie zu verlieren? Mit einer Taschenlampe ausgerüstet, fuhr sie zu jenem Wald, wo sie ihn aufgelesen hatte. Jedenfalls hoffte sie, ungefähr jene Stelle erreicht zu haben. In der Dunkelheit sah jeder Baum wie der andere aus und gestern in der Situation hatte sie nicht auf markante Büsche oder besonders dicke Baumstämme geachtet. Nicht im Traum hätte sie es für möglich gehalten, freiwillig hierher zurückzukommen. Sie parkte ihren Wagen in der Auffahrt eines Forstweges. Einerseits kam sie sich völlig bescheuert vor, nachts im Wald nach einem Mann zu suchen, aber andererseits meinte sie, einem inneren unwiderstehlichen Verlangen nachkommen zu müssen. Während sie den Weg mit ihrer Taschenlampe in der Hand entlang ging, drehte sie sich immer wieder zum Auto um. Sie wagte sich weiter in den Wald, als sie gedacht hatte. Von einem Forsthaus war allerdings nichts zu erkennen. Außer dem Rufen eines Waldkauzes begegnete ihr niemand. Wer auch? Nur weil sie hier einen jungen Mann getroffen hatte, konnte sie nicht davon ausgehen, dass er sich jede Nacht an dieser Stelle aufhielt. Auch wenn dieser Ort die einzige Verbindung zu ihm darstellte, diese nächtliche Suchaktion war reine Zeitverschwendung. Liana ging zum Wagen zurück, um nach Hause zu fahren. So etwas Einfältiges würde sie nicht wiederholen und doch, trotz ihres Zwiespaltes unternahm sie am zweiten Abend erneut den Ausflug in den Wald. Natürlich abermals erfolglos. Deshalb schwor sie sich, das nicht noch einmal zu tun. Am folgenden Abend saß Liana im Auto, auf dem Weg zu ihrem Lieblingsitaliener. Ein gutes Glas Rotwein und eine knusprige Pizza sollten sie auf andere Gedanken bringen. Als sie auf ihre Digitaluhr im Auto schaute, musste sie drei Mal hinsehen. Lediglich die letzte Ziffer, eine Drei, leuchtete, der Rest war offensichtlich ausgefallen. Das war ärgerlich. Der Wagen war noch keine zwei Jahre alt. Die Drei erschien Liana besonders hell. Definitiv war die Elektrik nicht in Ordnung. Beim nächsten Werkstattbesuch sollte sie diesen Defekt melden. Sie richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf den Verkehr.

»Alle guten Dinge sind drei«, schoss es ihr durch den Kopf. Ja, einen Versuch sollte sie noch starten. An der nächsten Kreuzung bog sie ab Richtung Wald. Wie die beiden Male davor, parkte sie den Wagen in der Einfahrt zum Forstweg. Beim Aussteigen schüttelte sie über sich selbst den Kopf. Jetzt war im Wald nicht mehr los, als die vergangenen Abende auch. Was erhoffte sie sich davon nur? Normal war ihr Verhalten jedenfalls nicht, aber das brauchte sie ja auch niemandem zu erzählen. Ein gutes Stück Weg hatte sie zurückgelegt, sogar den Blickkontakt zu ihrem Auto verloren. Plötzlich knackten Äste hinter ihr. Verdammt! Sie war aber auch heute zu leichtsinnig. Ihr Herz raste, während sie hastig herumfuhr. Mit ihrer Taschenlampe blendete sie eine Gestalt, die sie im ersten Moment nicht zuordnen konnte.

»Nehmen Sie das Ding runter.« Sofort erkannte sie aber die Stimme. Ihr nächtlicher Verfolger war kein anderer als Dr. Klingberger. Liana leuchtete auf seine Schuhe. Ein eisiger Schauer lief ihr über den Rücken. Was der Kerl wohl jetzt mit ihr anstellen wollte? Hier allein im Wald war sie ihm hilflos ausgeliefert und niemand würde ihre Hilferufe hören. Eine entsetzliche Vorstellung, als verstümmelte Leiche zu enden. Am Ende vergewaltigte er sie noch. Diese Überlegungen brachten ihren Kreislauf auf Hochtouren. Sie spürte die glühende Hitze in ihrem Gesicht und gleichzeitig die eisige Kälte auf ihrem Rücken.

»Seit drei Nächten stolzieren Sie hier herum. Ich frage mich allen Ernstes, ob Sie nicht verrückt sind. Möglicherweise machen Sie Jagd auf Werwölfe, oder sind Sie gar selbst einer?« Klingberger lachte.

Sehr witzig! Darüber lachen, konnte Liana unter diesen Umständen nicht. »Wissen Sie, Dr. Klingberger, Menschen wie Sie, werden das nie begreifen.« Sie reizte Klingberger damit, das war ihr bewusst. Ein Spiel mit dem Feuer. Andererseits empfand sie die Situation ohnehin als bedrohlich.

»Das ist wahr, Dr. Majewski. Geistesgestörte habe ich noch nie verstanden. Deshalb fällt es mir auch schwer, das Handeln von Schwester Bettina nachzuvollziehen. Sie war damals mit allem einverstanden. Wirklich! Warum sie sich heute dagegen sträubt, kann ich nicht begreifen. Ich habe es sogar schriftlich, dass uns Veit nach Bedarf übergeben werden muss.«

Uns? Wen meinte Klingberger damit? Es gab also eine Vereinbarung zwischen Klingberger und Bettina.

»Er ist ein anämisches Kind. Was ist an ihm so besonders?«

»Das, meine Liebe, verstehen Sie nun wieder nicht.« Mit einem triumphierenden Grinsen kam er auf sie zu. Schlagartig wurde er zornig, so als habe jemand einen Schalter in seinem Kopf betätigt. »Wo ist Veit?«

Liana wich nach hinten. Klingberger sprang auf sie zu, versuchte sie am Arm zu packen, doch sie hastete weiter zurück, dabei fiel ihr die Taschenlampe aus der Hand. Wendig drehte sie sich um und jagte in den Wald so schnell ihre Beine sie trugen. Sie war überrascht, wie gut sie bei diesen mageren Lichtverhältnissen ohne Lampe sehen konnte. Bestimmt wollte Klingberger sie foltern, bis sie Veits Aufenthaltsort verraten würde. Vermutlich ging der Kerl sogar über Leichen. Mit dieser Überlegung rannte sie nun um ihr Leben. Ihr Herz klopfte heftig in ihrer Brust, die beinahe zu zerreißen drohte. Nach Lianas Empfinden kam ihre Kondition viel zu rasch an ihre Grenzen. Kurz warf sie den Kopf zur Seite, um einen Blick über die Schulter zu erhaschen, wie dicht er ihr auf den Fersen war. Der dunkle Wald hinter ihr wirkte in diesem Augenblick fast friedlich, denn niemand war zu sehen. Spielten ihr ihre Sinne einen Streich oder hatte Klingberger aufgegeben, weil ihre Ausdauer vielleicht doch die bessere war? Sie lief langsamer weiter, blieb letztlich schwer atmend an dem glatten mächtigen Baumstamm einer Buche stehen. Bestimmt gehörte sein Verschwinden zu seiner Taktik. Hinter irgendeinem Busch lauert er ihr wahrscheinlich auf, um sie in dem Moment zu packen, wenn sie am wenigsten damit rechnete. Das Klügste wäre vermutlich, diesen Weg zu verlassen, ein gutes Stück nach rechts zu gehen, um dann wieder Richtung Straße zum Wagen zu laufen. Ständig schaute sie sich dabei um und bemühte sich, keine Äste unter ihren Füßen knacken zu lassen. Weder erkannte sie ihr Auto noch konnte sie Klingberger entdecken. Manche Bäume wirkten mit ihren langen Ästen wie Monster, die nach ihr zu greifen versuchten, andere erinnerten an Säulen einer riesigen Halle. An den lichten Stellen des Blätterdaches fiel das fahle Mondlicht auf den Waldboden. In ihren lebhaften Vorstellungen sah sie sich in ihren Wagen steigen. So wie in den Horrorfilmen, wenn die Opfer sich schon in Sicherheit wiegen, wartete Klingberger versteckt auf der Rücksitzbank. Sie könnte versuchen, nach Hause zu laufen, doch selbst über den kürzesten Weg würde sie zu Fuß mehrere Stunden unterwegs sein, vor allem musste sie allein eine lange Strecke durch den dunklen Wald zurücklegen. Nein, das kam nicht in Frage. Bevor Liana den nächsten Schritt wagte, suchten ihre Augen das Buschwerk sorgfältig ab, und zwar nicht nur nach vorn, sondern auch zu beiden Seiten. Nach einer Weile spürte sie, wie ihre Anspannung einen Satz machte. Für einen Moment hielt sie den Atem an.

Klingberger schlug wild mit den Fäusten um sich, versuchte mit gezielten Fußtritten seinen Gegner zu treten. Liana zweifelte an dem, was sie zu sehen glaubte. Ihre Fantasie spielte ihr einen Streich! Aber nein, Klingbergers Widersacher war jener attraktive Mann, den Liana seit drei Nächten zu finden hoffte.

Das war zu verrückt. Sie hatte ihn endlich gefunden. Mit atemberaubend hohen Sprüngen wirbelte er durch die Luft, trat Klingberger so wuchtig entgegen, dass dieser zu Boden fiel. Er bewegte sich auffallend gelenkig, unglaublich schnell. Lianas Mund fühlte sich trocken an. Hastig rappelte sich Klingberger auf. Der junge Mann holte mit einem Bein Schwung, indem er sich um sich selbst drehte, und traf Klingberger mit dem Fuß so heftig gegen die Brust, dass dieser nach Luft schnappend umfiel. Liana sah gebannt zu, erst jetzt bemerkte sie, wie ihr vor Staunen der Mund offen stand, sofort machte sie ihn zu. Seine fließenden Bewegungen glichen der Eleganz chinesischer Kampfkünstler. Mit derartigen Fähigkeiten brauchte man Klingberger nicht zu fürchten. Der junge Mann drehte Klingberger zur Seite, zog die Hände auf den Rücken und legte ihm Handschellen an.

Er war also ein Polizist! Sieh an! Da kam endlich die kriminelle Wahrheit über Klingberger ans Licht. Liana wollte für nichts in der Welt auch nur eine Minute seiner Festnahme verpassen. Nach der Demütigung mit der gefälschten Diagnose zählte dieser Moment zu einem triumphalen Augenblick. Sie hockte sich hinter ein dichtes Gebüsch und spähte seitlich an den Blättern vorbei. Selbst der gute Guido hätte, um Klingberger über den Waldboden zu ziehen, seine Mühe gehabt, aber der Polizist schien sich nicht groß anzustrengen, als er Klingberger an den Baum zog. Wie stark er sein musste, dabei bemerkte Liana ihren schneller werdenden Herzschlag. Einen solch kräftigen Partner zu haben, wäre traumhaft. Um den Stamm des Baumes hing ein Seil, als habe jemand bereits für Klingberger Vorkehrungen getroffen. Die losen Enden befestigte er um die Fußgelenke von Klingberger, der gerade wieder zu sich kam.

»Eines Tages«, er stöhnte, hatte wahrscheinlich Schmerzen, »eines Tages werden sie dich kriegen. Wir werden jedenfalls beenden, was wir begonnen haben. Du willst Rache, nicht wahr? Oh, verdammt, ich kenne nicht einmal deinen Namen.«

Der Polizist stellte seine Füße zu beiden Seiten von Klingbergers Kopf auf. Liana meinte zu beobachten, wie er dabei seinen Rücken, seine Schultern streckte, als sei es auch für ihn ein ganz besonderer Augenblick. Womöglich antwortete er deshalb nicht, er genoss Klingberger in dieser Position zu wissen, denn schließlich ging es hier um Rache.

»Begreifst du denn nicht, welche Bedeutung diese Zeit für uns hatte?« Die Stimme von Klingberger klang ungewohnt. Sollte dieser Mistkerl etwa Angst haben? »Aber euresgleichen sind ein bemerkenswerter Beitrag zur Bekämpfung von ...«

Der Polizist stellte seinen Fuß auf Klingerbergs Kehlkopf. Liana musste sich auf seine leise, dunkle Tonlage konzentrieren. »Mein Name ist Traian und euresgleichen werden mit unseresgleichen,« er betonte die folgenden Worte sehr deutlich, »niemals etwas gemeinsam haben.«

Traian hieß also ihr schöner Unbekannter. Ein Name, der ihr noch nie zu Ohren gekommen war, dabei klang er so vertraut. Traian nahm seinen Fuß zurück. Klingberger röchelte, hustete ein paar Mal, bis er sich wieder gefangen hatte.

»Du irrst dich«, krächzte er. »Ich ...« Klingberger sprach nicht weiter, keinen Ton sagte er jetzt mehr, obwohl Traian ihm lediglich ins Gesicht sah. Er bewegte sich auch nicht, lag still da, als sei er eingeschlafen. Wie alarmiert richtete sich Traian auf und schaute sich um. Sein Blick blieb auf dem Gebüsch ruhen, hinter dem sich Liana versteckt hielt. Sie hatte die ganze Zeit über bewegungslos hier verharrt, wie konnte er von ihrer Anwesenheit wissen? Möglicherweise hatte Traian sie beobachtete, wie Klingberger ihr gefolgt war. Noch immer sah er zu ihr hinüber. Liana schluckte. Allein wegen ihm war sie hergekommen, sie sollte sich endlich zeigen. Sie bemerkte wie ihr Herzschlag schneller, ihr Atem flacher wurde, dabei musste sie natürlich mit einer ablehnenden Reaktion rechnen. Langsam richtete sie sich auf. Für einen winzigen Moment sah sie alles schwarz. Tausend kleine Sterne rasten auf sie zu. Als sich ihr Kreislauf erholte, sie wieder klar sehen konnte, stand er bereits vor ihr.

Traian.

Das Mondlicht schien zwischen seinen Haare auf sein Gesicht. Wie makellos, wie perfekt es aussah. Augenblicklich war ihr Kopf leer. Gedanken sowie Worte waren davongeflogen. Nur dieser anziehende Mann blieb übrig, der ihr so intensiv durch seine Haarsträhnen in die Augen schaute, dass Liana schwindelig wurde.

»Je später die Nacht, desto schöner die Waldbesucher.« Traians dunkle Stimme klang nach mehr, als könne man ihm hundert Jahre beim Erzählen zuhören. Liana suchte nach einem Satz, nach einer Antwort, doch Traians Anblick, seine Gegenwart, brachten ihre Gedanken völlig durcheinander. Sie senkte ihren Blick, versuchte dem Chaos in ihrem Kopf entgegen zu wirken. Solange sie ihm in die Augen sah, schien es unmöglich.

»Ist alles in Ordnung?« Er sprach auffallend leise. Liana konnte nicht bestimmen, ob es der raue Klang seiner Stimme oder seine deutliche Aussprache war, die sie faszinierte.

»Danke.« Großartig! Fiel ihr nichts Besseres ein? Sie kam sich töricht vor, wie ein kleines Schulmädchen ohne Erfahrung, das beim Anblick eines Jungen rot wurde. Hoffentlich errötete sie nicht wirklich, das wäre noch peinlicher, als ihre einfallslose Antwort. Liana atmete tief durch. Es lag jetzt in ihren Händen, eine Frage zu stellen, ein nettes Gespräch mit ihm zu beginnen.

»Warum sind Sie neulich so plötzlich verschwunden?« Super! Konnte sie nicht erst mal nachdenken, bevor sie ihn verbal bedrängte. »Ich hätte Ihnen gern geholfen.« Na ja, zumindest erweckte der zweite Satz einen besseren Eindruck. Sie könnte ihn fragen, was mit Klingberger passieren sollte. Fasziniert starrte sie gebannt in seine hellbraunen Augen, die sich geheimnisvoll hinter den paar Haarsträhnen versteckten. »Liana! Ich heiße Liana Majewski.« Er hatte sie nach ihrem Namen gefragt und sie hatte gar nicht reagiert. Sie musste mit ihren Gedanken ganz woanders gewesen sein.

»Liana Majewski«, wiederholte er mit seiner Stimme, die danach klang, als könne man diesem Mann seine Seele anvertrauen. »Eine schöne Frau sollte nicht nachts durch den Wald spazieren.« Ein Leuchten blitzte in seinem Blick auf. »Vor hinterhältigen Gestalten ist man hier nicht sicher.«

Liana fühlte sich wie in eine Wolke der Geborgenheit gehüllt. Ihre Umgebung verschmolz mit der Dunkelheit. Lediglich dieser anziehende Mann vor ihr blieb vor ihrem geistigen Auge zurück, dabei meinte sie, ihre Hände würden heiß werden.

»Ich werde Sie zu Ihrem Auto begleiten.« Er legte seine Hand auf ihren Rücken und schob sie auf den Weg. Dieser Körperkontakt glich einem sanften Sommerregen auf nackter Haut, zärtlich und prickelnd. Es fühlte sich nach einem heilsamen Ritual einer verletzten Seele an. Sie wünschte sich, in diesen Gefühlen ewig baden zu dürfen. Als Liana in ihren Wagen stieg, dabei Traian seine Hand zurücknahm, schien es ihr fast schmerzhaft, sich von seinem wundersamen Kontakt zu trennen. Allein, ohne ihn, in ihrem Auto nach Hause zu fahren, kam ihr falsch vor, doch gab es keine Alternative. Eine letzte Berührung auf ihrer Hand gab ihr Zuversicht Traian wiederzusehen.

Sie wusste, irgendetwas stimmte hier nicht, sie hatte ihn noch etwas fragen wollen, konnte sich aber beim besten Willen nicht daran erinnern.